Damit lieferst Du mir ein weiteres Indiz, daß der Zinnober um "Hochliteratur" im Grunde nur Klassismus und noch dazu inzestuös ist.
Dass Klassismus herrscht lässt sich kaum leugnen. Doch ich glaube nicht, dass er sich bekämpfen lässt, in dem man seine Opfer mit "niederschwelligen Angeboten" einer Massenkultur abspeist, die meist auch nichts anderes propagiert als den gesellschaftlichen Status quo, den es doch eigentlich zu überwinden gilt. Dass ausgerechnet Böll und Grass, die sich in ihren Werken, sowie im richtigen Leben, stets für die Opfer der Gesellschaft engagiert hatten, hier wegen ihrer Zurechnung zur sog. "hohen" Literatur als Feindbilder fungieren, ist grotesk. Vielleicht spielt gelegentlich eine in der Schulzeit erworbene Aversion eine Rolle, die sich selbst Legitimierung verschafft, in dem sie sich unter dem Banner hehrer Ziele der Bekämpfung der sog. "hohen" Literatur und ihrer vermeintlichen Nutznießer verschreibt.
Mich hier zu einem Popanz aufgebaut zu haben ist ein sehr zweifelhaftes Verdienst Annanymous. Ich bin nicht die ausgrenzende "Hochkultur". Ich möchte nur, dass ich in der Onleihe möglichst auch meine Favoriten finde und dass relevante Werke (die sich manchmal mit meinen Favoriten decken – manchmal nicht) vorhanden sind. Das schließt sog. "Trivialliteratur" keineswegs aus und nicht jegliches "hochliterarische" Werk ein. Und für ganz offenkundigen Schrott in der Onleihe habe ich überhaupt kein Verständnis.
Den "Zinnober um die Hochliteratur" sehe ich nicht so holzschnittartig undifferenziert wie Annanymous. Mit Sicherheit bilden die Netzwerke zwischen Autoren, Kritikern und Verlegern einen elitären Klüngel, der möglicherweise auch der Ausgrenzung (nachrückender Autoren, literarischer Subkulturen ...) dient. Was ich allerdings nicht weiß, sondern nur mutmaße. Andererseits erfüllt dieser "Zinnober" auch eine gesellschaftliche Funktion. Er schafft und verwirft Qualitätskriterien, findet und erfindet Themen und Diskussionsstoffe, befeuert soziale und politische Veränderungen und vieles mehr. Dabei interagiert er kooperativ als auch kompetitiv mit anderen Subkulturen, regt diese an oder bedient sich ihrer Erfindungen (=klaut).
Annanymous definierte "anspruchsvoll" einmal als "alles, was den gegenwärtigen Horizont herausfordert. Das ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich".
Ich finde das nicht völlig daneben, weil ich das als persönliche Maxime wunderbar finde. Aber wenig geeignet, wollte sie ein Bibliothekar oder Literaturkritiker anwenden. Ich glaube, dazu müsste man objektivere Qualitätsmerkmale finden. Wobei ich nicht ganz sicher bin, wie man das anstellen sollte. Denn auf empirischen Weg mit Hypothesen und deren Falsifikation wird es kaum gehen. Vielleicht in diskursiven Verfahren – aber wer kann / soll daran teilnehmen und wen verpflichten sie? Keine Ahnung. Bis es soweit ist bediene ich mich auch gerne einer beurteilenden Instanz: der Kritiker*in.
P.S. obiger Link zum "Klassismus" verweist auf die Seite einer Stiftung, die nach Heinrich Böll benannt wurde.